24. Juni 2013 · 16:27
Systemtheoretische Aspekte von Ökonomie
Der Begriff des sozialen Systems läßt sich damit in Verbindung bringen, daß salopp gesagt eine Gruppe von Akteuren eine Interaktionsweise pflegt, die sich als gruppenspezifischer Sinn interpretieren läßt. Damit setzt eine Diskussion ökonomischer Zusammenhänge als System eine Betrachtung darüber voraus, welche Charakteristika ein ökonomisches Modell aufzuweisen hat, um vor den Normen der modernen Systemtheorie als System akzeptierbar zu sein. Dabei läßt sich zunächst feststellen, daß der Anspruch der allgemeinen Gleichgewichtstheorie, Ökonomie auf eine systemtheoretische Basis zu stellen und Ökonomie damit als Wissenschaft zu etablieren durch den Umstand eingegrenzt werden muß, wenn man feststellt, daß es sich bei derartigen Modellen um Quasi-Systeme handelt:
„Quasi-Systeme entstehen aus der elementaren Interaktion von Anwesenden.“ (Willke 1987, S. 51)
Die elementare Interaktionsfigur der Neoklassik ist der Tausch, wobei die Tauschrelationen durch eine zentrale Koordinationsinstanz, die Fiktion des Auktionators, etabliert werden müssen. Die angebliche Geschlossenheit des neoklassischen Modells erweist sich also bei näherem Hinsehen in systemtheoretischer Perspektive als Glaubenssatz, bzw. als unhinterfragte Affirmation der methodischen Grundlage, nur individuelle Entscheidungen als ökonomisch bedeutsam zu interpretieren, deren Koordination einer Instanz übertragen werden muß, weil bei Berücksichtigung der Optimalitätsanforderungen von Gleichgewichtsmodellen die individuelle Orientierung an gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichtsnotwendigkeiten ausgeschlossen ist. Diese Kluft zwischen Anspruch und Bedürfnis nach Geschlossenheit läßt sich durch derartige ad—hoc Annahmen wie das „Gesetz von Angebot und Nachfrage“ oder die ‚hidden hand‘, die eine Gesellschaft zu einem wohlfahrsökonomikschen Optimum führt, nicht letztgültig überbrücken und verweist eher darauf, daß zur Koordinierung ökonomischer Handlungen mehr vonnöten ist, als purer Glaube an die Stabilitätseigenschaften von Märkten.
„Eine über die Mitglieder hinausgehende zusätzliche Systemidentität und eine bewußte, innere wie äußere Identifikation der Mitglieder mit dem System bildet sich erst aus mit der Verdichtung des Quasi-Systems zum System.“ (Willke 1987, S. 53)
„Daß Sozialsysteme auf der Basis von Sinn organisiert sind, klingt zunächst überraschend. Denn wir sind gewohnt, in Anlehnung an biologische Modelle auch vom Gleichgewicht oder vom Überleben eines sozialen Systems als letztem Bezugspunkt der Analyse auszugehen.“ (Willke 1987, S. 29)
Dabei ist die Frage was Sinn bzw. Nicht—Sinn konstituiert daran gebunden, daß ein Kriterium existiert, welches das sinnhafte vom nicht-sinnhaften Umweltereignis unterscheidet.
„Die Systemgrenze sozialer Systeme kann verstanden werden als der Zusammenhang selektiver Mechanismen, die auf einer ersten Stufe der Differenzierung von System und Umwelt die Kriterien setzen, nach denen zwischen dazugehörigen und nicht-dazugehörigen Interaktionen unterschieden wird. … Da soziale Systeme nicht aus konkreten Menschen, sondern aus Kommunikationen bestehen, kann im Anschluß an Max Weber die gemeinsame sinnhafte Orientierung wechselseitig verstehbaren Handelns als Grundbedingung eines systemischen Zusammenhangs von Interaktionen betrachtet werden. Nimmt man im Anschluß an Luhmann hinzu, daß Sinn eine selektive Beziehung zwischen System und Umwelt beinhaltet, dann bezeichnet Sinn in allgemeiner Weise die Ordnungsform sozialen Handelns: intersubjektiv geteilter Sinn grenzt systemspezifisch ab, was als sinnvoll und was als sinnlos zu gelten hat.“ (Willke 1987, S. 30)
Die Abgrenzung dessen, was als Äußeres bzw. als Inneres eines Systems gelten soll, bestimmt dann die Normen nach denen Systeme funktionieren.
„Die Präferenzordnung eines sozialen Systems bezeichnet den Zusammenhang sinnhaft-symbolisch konstituierter regulativer Mechanismen, welche die Transaktionen zwischen System und Umwelt steuern. … Denn erst die Leistung spezifischer Selektionen aus den überkomplexen Möglichkeiten der Umwelt erzeugt die Differenz zwischen System und Umwelt, die das System zum System macht. Diese Selektionsleistung ist funktional bezogen auf das Problem der Ausbildung und Erhaltung einer bestimmten Systemidentität angesichts bestehender Zwänge und Zufälle der relevanten Umwelt. Die Steuerung der Selektion von Umweltdaten durch eine nach Sinnkriterien gebildete Präferenzordnuug ist Bedingung der Möglichkeit der Systembildung.“ (Willke 1987, S. 31)
Die Konstituierung von Systemzusammenhängen bedarf aber noch eines Mediums, eines äußeren Ausdrucksmittels, um die Zugehörigkeit eines Ereignisses zum System entscheiden zu können.
„Soziale Interaktionen sind sinnhaft orientiert, wenn ihr Bedeutungsgehalt durch ein Repertoire verbindlicher Symbole (Symbole hier verstanden als generalisierte Interaktions- und Zurechnungsregeln) gesteuert und sie mithin aufeinander bezogen und dadurch in zeitlich offene, verstehbare Handlungsketten verwoben werden können. Die Frage nach dem Sinngehalt von Interaktionen erlaubt dann die Unterscheidung von solchen, die in bezug auf ein bestimmtes Symbolrepertoire dazugehören und solchen, die nicht dazugehören. Sinnhaft konstituierte Symbole sind die — inhaltsanalytisch und hermeneutisch zu erfassenden – Merkmale, die für einen bestimmten Handlungszusammenhang stehen und auf ihn verweisen.“ (Willke 1987, S. 35)
Diese Heraushebung von systeminternen und systemexternen Vorgängen hängt mit der Schwerpunktverlagerung der modernen Systemtheorie zusammen, die damit ihr Erkenntnisobjekt redefiniert:
„Die neuere Systemtheorie ist eine Theorie der Beziehungen zwischen Systemen und Umwelt in dem Sinne, als sie die herkömmliche analytische Isolierung von Einzelsystemen überwinden will und Systeme immer nur im Zusammenhang mit ihrer jeweiligen Umwelt zu erfassen sucht. Dies bedeutet zunächst, daß der Systembegriff der neueren Systemtheorie nicht mehr nur ein Netz von Beziehungen bezeichnet, welches Teile zu einem Ganzen zusammenordnet; vielmehr wird unter System ein Netz zusammengehöriger Operationen verstanden, die sich von nicht-dazugehörigen Operationen abgrenzen lassen. In der Bestimmung des Systems wird also das Nicht-dazugehörige als Umwelt immer schon mitgedacht und mithin in der Auseinandersetzung des Systems mit seiner Umwelt das grundlegende Problem gesehen. Denn die spezifische Problematik seiner Umwelt macht für ein bestimmtes System überhaupt erst erkennbar, welche interne Systemstruktur zu welchen Zwecken und mit welchen Stabilisierungs- und Veränderungschancen funktional sein kann. Die Ordnung eines Sozialsystems wird damit zum relationalen Begriff und auf ihre Zwecke abfragbar. … Mit dieser Neuorientierung wird auch deutlicher, daß die Systemtheorie nicht auf die Analyse von Gleichgewichtsprozessen beschränkt ist …“ (Willke 1987, S. 37f)
Der entscheidende Grund der zu dieser Trennung von Innen— und Außenwelt als Grundgedanke der modernen Systemtheorie geführt hat, ist in den Mechanismen zu suchen, die es überhaupt erst erlauben von einem zwar interaktionsfähigen aber im Prinzip abgeschlossenen System zu sprechen. Die grundlegende Idee dabei ist, daß ein System essentiell zwei Aufgaben bewältigen muß, wobei die Interaktionsfähigkeit mit der Umwelt bzw. die Verarbeitung und Selektion relevanter Umweltdaten bereits angesprochen wurde.
„Das von den Biologen Maturana und Varela entwickelte Autopoiese—Konzept bezieht sich auf die Beobachtung, daß es offensichtlich Systeme gibt, die sich selbst reproduzieren; und zwar sich selbst reproduzieren nicht nur im herkömmlichen Sinne der genetischen Replikation in der Generationenfolge, sondern in dem sehr viel spezifischeren Sinne einer kontinuierlichen gegenwärtigen Selbsterzeugung des eigenen Systems. Autopoietische Systeme sind operativ geschlossene Systeme, die sich in einer ‚basalen Zirkularität‘ selbst reproduzieren, indem sie in einer bestimmten räumlichen Einheit die Elemente, aus denen sie bestehen, in einem Produktionsnetzwerk wiederum mit Hilfe der Elemente herstellen, aus denen sie bestehen (Maturana, 1982). Etwas vereinfacht ausgedrückt: ein autopoietisches System reproduziert die. Elemente, aus denen es besteht, mit Hilfe der Elemente, aus denen es besteht. … Und genau daraus folgt das eigentlich Aufregende: lebende oder autopoietische Systeme erscheinen nun entgegen dem systemtheoretischen Grundpostulat der notwendigen Offenheit lebender Systeme in ihrem Kernbereich, in ihrer inneren Steuerungsstruktur als geschlossene Systeme. In der Tiefenstruktur ihrer Selbststeuerung sind sie geschlossene Systeme, also gänzlich unabhängig und unbeeinflußbar von ihrer Umwelt. Wird diese operative Geschlossenheit zerstört, so bricht ihre Autopoiese zusammen, sie hören auf als lebende Systeme zu existieren. … Das Autopoiese—Konzept ist wichtig, weil es gegenüber der einseitigen Betonung der Umwelt-Abhängigkeit von Systemen deren interne Strukturdeterminiertheit primär setzt. Damit kommt ins Blickfeld, daß Systeme zunächst und vor allem ihre eigene Kontinuierung organisieren müssen, um als Systeme in Beziehungen zu ihrer Umwelt treten zu können. … Größere Schwierigkeiten bereitet es, auch soziale Systeme als autopoietische zu begreifen. Grundlage einer solchen Konstruktion ist die Annahme, daß soziale Systeme nicht aus einer Ansammlung von Menschen bestehen, sondern aus dem Prozessieren von Kommunikationen. … Soziale Systeme bilden sich auf der Grundlage von Kommunikationen. Für ihre Kontinuität ist fortlaufende Kommunikation unerläßlich. … Streng analog (zu biologischen Systemen, R.M.) können soziale Systeme dann als operativ geschlossen angesehen werden, wenn sie semantische Strukturen ausbilden, die die in ihnen ablaufenden kommunikativen Operationen auf selbstreferentielle, rekursive Umlaufbahnen zwingen. Diese Bedingung ist für die Gesellschaft als dem Gesamtzusammenhang aneinander anschließbarer Kommunikationen qua Definition gegeben. Für gesellschaftliche Teilsysteme und andere soziale Systeme aber nur dann, wenn sie Spezialsemantiken ausbilden …“ (Willke 1987, S. 43-47)
Damit sind Begrenzung und Dynamik die beiden Facetten eines einheitlichen Prozesses, wobei deren interne gegenseitige Bedingtheit ein System von seiner Umwelt absondert, wodurch es sich gewissermaßen selbsttätig etabliert und abgrenzt:
„Die eigentümlichste Charakteristik eines autopoietischen Systems ist, daß es sich sozusagen an seinen eigenen Schnürsenkeln emporzieht und sich mittels seiner eigenen Dynamik als unterschiedlich vom umliegenden Milieu konstituiert.“ (Maturana/Varela 1987, S. 54)
Steuerungs— und Kommunikationsfunktionen des Finanzsystems
Mit der Auflistung der Anforderungen, die die Systemtheorie an soziale Systeme stellt, ist im wesentlichen bereits vorgezeichnet, durch welche Elemente das ökonomische System repräsentiert wird. Werden soziale Systeme nach der Prozessierungsform von Sinn unterschieden, so läßt sich damit die These aufstellen, daß auf makroökonomischer Ebene die Sinngebung durch die Operationsweise des Finanzsystems etabliert wird und damit auch die entsprechende Kommunikationsform über (absolute) Preise und die für dieses System relevanten Interaktionen, die (Geld-) Zahlungen, festgelegt sind. Mit dieser These wird in gewisser Weise dem Ausgangspunkt der Marx’schen Vorstellungen über das Wesen des kapitalistischen Produktionsprozesses nachträglich Referenz erwiesen, indem die Postulate der orthodoxen Ökonomie, repräsentiert durch die W-G-W Formel, zugunsten des kapitalistischen G-W-G‘ Schemas der Marx’schen Theorie ins Abseits gestellt werden. Dabei braucht der Fundamentalsatz der Nationalökonomie vom Konsum als Endzweck allen ökonomischen Handelns nicht preisgegeben zu werden, wenn nachgewiesen werden kann, daß derartige Vorstellungen nicht mit der hier vertretenen Konzeption, das ökonomische System als durch Finanzbeziehungen charakterisiert zu sehen, kollidieren müssen. (Daß kreditgeldtheoretisch gesehen der Schluß von G auf G´ unzulässig ist und eher auf einer Verwechslung der Phänomenologie von Zinsen mit den grundlegenden Funktionsbedingungen des Kreditgeldkapitalismus beruht, macht dieses Modell letztlich als Analyseinstrument für den Kreditgeldkapitalismus unbrauchbar.) Selbst wenn die Marx’sche Formel noch nicht ausreichend ist, um das ökonomische System in der Gesamtheit zu erfassen, weist sie doch auf einen entscheidenden Sachverhalt hin, auf den das oben skizzierte Autopoiese—Konzept sinnvoll angewandt werden kann.
„Die Ausdifferenzierung von sozialen Systemen erfordert die Schließung eines selbstreferentiellen Verweisungszusammenhangs für alle Operationen des entsprechenden Systems. Bei allem, was wirtschaftlich geschieht, also der Wirtschaft als System zurechenbar ist, muß demnach Selbstreferenz mitlaufen. Die Kommunikationen der Wirtschaft müssen sich als wirtschaftlich ausweisen, damit man sie nicht falsch interpretiert, etwa als auf Intimität zielenden Annäherungsversuch auffaßt; sie müssen, was immer sie sonst leisten, immer auch das Wirtschaftssystem selbst reproduzieren. Andererseits ist diese Geschlossenheit des selbstreferentiellen Zirkels nie als ein Sachverhalt für sich möglich; sie kann nur als mitlaufende Selbstreferenz eingerichtet werden.“ (Luhmann 1983, S. 154)
Übertragen auf die finanzielle Sphäre bedeutet dies, daß eine ökonomische Handlung im hier verstandenen Sinne von Ökonomie sich durch die Verkettung mit einer Zahlung ausweist und somit unentgeltliche Leistungen, obwohl sie aus wohlfahrtstheoretischen Gesichtspunkten für eine Gesellschaft eine immense Bedeutung genießen, sich nicht als ökonomisch relevant ausweisen. Die Transaktion Ware gegen Geld reflektiert aber nur auf der phänomenologischen Ebene das, was die Interaktion der Geldsphäre mit der Gütersphäre ausmacht, und ist damit der allfällige Ausdruck der Interaktion des Finanzsystems mit seiner Umwelt. Insofern bleibt die Fixierung auf die Tauschmittelaufgabe des Geldes lediglich eine oberflächliche Betrachtungsweise, die sich mit dieser Annäherung an das Geldproblem letztlich immer an die Tauschökonomie, und als Folge davon stets an die Quantitätstheorie festklebt. Die Betrachtung der selbstreferentiellen Tiefenebene ergibt dagegen, daß letztlich nicht Geld gegen Ware, sondern Geld gegen (kalkulierten) Geldwert getauscht wird, es also bildlich gesprochen bei der Erreichung eines Umsatzziels in letzter Konsequenz nicht darauf ankommt was verkauft wird, sondern wieviel und zu welchem Preis. Eine Zahlung ist also nicht schon deswegen als ökonomisch zu interpretieren, wenn dabei ein Gut den Besitzer wechselt, sondern es ist noch zusätzlich erforderlich, daß dabei das Geldsystem auf sich selbst verweist, d.h. wenn eine Zahlung ein Defizit, repräsentiert durch die Verbindlichkeiten des betreffenden Wirtschaftssubjektes, abbaut oder begründet. Die Öffnung des internen Verweisungszusammenhangs besteht somit in der Etablierung einer Schuldposition eines Unternehmers, die Schließung dementsprechend in dem Rückfluß der Auszahlungen über den Umsatz, wobei je nach Höhe der Rückflüsse die Reproduktion des Schuldverhältnisses vorgenommen wird oder nicht.
„Produktion ist nur Wirtschaft, Tausch ist nur Wirtschaft, wenn Kosten beziehungsweise Gegenzahlungen anfallen. Dann realisiert der Vorgang einen Verweisungskontext, der auf Güter und Leistungen, auf Wünsche und Bedürfnisse, auf Folgen außerhalb des Systems Bezug nimmt; und zugleich einen anderen, in dem es nur um Neubestimmungen der Eigentumsverhältnisse an Geld, also an Möglichkeiten der Kommunikation innerhalb des Systems geht. Diese mitlaufende Selbstreferenz ermöglicht durch ihre Geschlossenheit die Offenheit des Systems. ‚L’ouvert s’appuie sur le ferme.‘ Die Sicherheit der Selbstverweisung ist Bedingung des Ausgreifens in die Umwelt.“ (Luhmann 1987, S. 155)
Genauer formuliert: die Sicherheit der Selbstverweisung ist nicht selbstverständlich, da eine Zahlung nur dann für Ökonomie relevant ist, wenn sie auf diesen Verweisungszusammenhang trifft, sprich: wenn sie zu ihrem Entstehungsort, der Bilanz einew verschuldeten Wirtschaftssubjektes zurückkehrt. Aus diesem Grund sind Zahlungsmittelumschichtungen zwischen Haushalten, deren Charakteristikum die Geldvermögensbestände der Aktivseite sind, für diesen speziellen relevanten Verweisungszusammenhang irrelevant. Etwas weniger abstrakt bedeutet das: das Ausgreifen des Finanzsystems in die Umwelt ist nur dann zu erwarten, wenn sich Investitionen lohnen und damit die Erweiterung des internen Verweisungszusammenhangs über eine höhere Krediteinräumung das Ausgreifen in die Umwelt noch weiter steigert. (Das verweist auch auf den Umstand, daß sich auf Wertpapiermärkten genau die Tauschoperationen abspielen, welche die allgemeine Gleichgewichtstheorie für das allgemeine Prinzip des Wirtschaftens hält – ein sonderbarer Fehlschluß!)
„Ein System, das auf der Basis von Zahlungen als letzten, nicht weiter auflösbaren Elementen errichtet ist, muß daher vor allem für immer neue Zahlungen sorgen. Es würde sonst von einem Moment zum anderen schlicht aufhören zu existieren. Und dabei geht es nicht um die abstrakte ‚Zahlungsfähigkeit‘, die sich aus dem Besitz liquider Mittel ergibt; es geht also nicht um eine relativ konstante Größe, sondern um die konkrete Motivation zur Zahlung und ihren aktuellen Vollzug. Die Wirtschaft ist demnach ein ‚autopoietisches System‘, das die Elemente, aus denen es besteht, selbst produzieren und reproduzieren muß. Der adäquate Bezugspunkt für die Beobachtung und Analyse des Systems ist daher nicht die Rückkehr in eine Ruhelage, wie Theorien des ‚Gleichgewichts‘ suggerieren, sondern die ständige Reproduktion der momenthaften Aktivitäten, eben der Zahlungen, aus denen das System besteht.“ (Luhmann 1987, S. 155)
Obwohl diese Sätze einen richtigen Kern beinhalten, bleiben sie jedoch auf der phänomenologischen Ebene stehen, denn wären Zahlungen allein schon konstitutiv für die Selbstreferenz des Finanzsystems, so wären diese Gedanken auch auf das Konzept der allgemeinen Gleichgewichtstheorie übertragbar, da die Bereitstellung von Außengeld über Staatsverschuldung den Haushalten dasjenige Kommunikationsinstrument zur Verfügung stellt, welches den autopoietischen Charakter des Finanzsystems bereits sicherstellen soll.
Die allgemeine Gleichgewichtstheorie hat aber mit Autopoiese nichts zu tun, da sie auf der Güterebene einen Reproduktionsgedanken zugunsten des Erstausstattungs- und Allokationskonzepts lediglich indirekt thematisiert und bei der Kommunikations- und Koordinationsfrage sich auf Unwissen, dokumentiert durch Auktionator und ‚invisible hand‘ berufen muß, bzw. alternativ konsequent durchgeführt, den Koordinationsteil dieser Theorie mit Hilfe der rationalen Erwartungen in die Köpfe der Wirtschaftssubjekte verpflanzt. Dagegen hat Sraffa in seinen Produktionsgleichungen immerhin für die physische Ebene eine Reproduktionstheorie entworfen und in gewisser Weise eine Unternehmergesellschaft postuliert, die ihre Kalküle nach einem Geldzinssatz ausrichten (vgl. Sraffa 1976, S. 56), beschränkt sich aber dann auf formale Analyse von linearen Gleichgewichtssystemen und hält sich bei der Koordinationsfrage gleichermaßen bedeckt.
In beiden Fällen läßt sich jedoch gleichermaßen die Vorstellung eines Tauschmittels formulieren und integrieren, ohne daß damit belegt wäre, daß die Zahlungen den selbstreferentiellen Kern der Ökonomie ausmachen würden. Im Gegenteil sind derartige Zahlungen an die Gleichgewichtslösungen gebunden, und sind damit nur der institutionelle Reflex vorgegebener Tauschverhältnisse, ganz im Sinne der W-G-W Formel, die ja dann auch auf einen nichtkapitalistischen gesellschaftlichen Kontext hinweist. Demgegenüber ist der kapitalistische Vergesellschaftungszusammenhang über die finanzielle Sphäre vermittelt, so daß sich damit die Sprache des Geldes als die relevante Kommunikationsebene erweist, die es letztlich ermöglicht, daß ein allgemeiner gesellschaftlicher Konsens über die Kriterien der Verteilung von Gütern hergestellt werden kann. Dieser Konsens ist insbesondere dann herstellbar, wenn die Schaffung von Kredit mit der Verpflichtung verbunden ist ein Güter- oder Leistungsangebot zu machen, was gerade dann der Fall ist, wenn der gebilligte Kredit zu Investitionszwecken Verwendung findet, und damit die Ausweitung des Investitions- bzw. Kredit- und gegebenenfalls Geldvolumens keine Inflation, sondern ein expandierendes Güterangebot bei steigendem Nachfragepotential schafft. Die Existenz dieses Kausalzusammenhangs rechtfertigt die Akzeptanz des G-W-G Schemas als allgemeines Koordinationsinstrument der verschiedensten Tätigkeiten des wirtschaftlichen Lebens. Die autopoietische Qualität des Finanzsystems ist dabei eher sekundär an eine erfolgreiche Produktion im Sinne des Grenzproduktivitätskonzepts, sondern primär an eine erfolgreiche Vermarktung der Waren bzw. Produktionswerte gebunden, so daß Produktivität und Marketing und Vertrieb die realökonomischen Spiegelbilder des Systemaspekts „Rückfluß der Investitionsausgaben“ sind, welche die Erhaltung der Investition und damit des Zahlungsstroms sicherstellen (sollen).
Damit bleibt noch zu diskutieren, welches die treibende Kraft, bzw. sozusagen der genetische Code ist, der die Systemstruktur lebendig bzw. dynamisch erhält. Die Antwort darauf ist in dem Umstand zu finden, daß es unmöglich und unnötig ist eine Kreditgeldökonomie gesamtwirtschaftlich wieder zu liquidieren, da in letzter Konsequenz Zinszahlungen stets in dem Geld geleistet werden müssen, in dem auch der Kredit zu tilgen ist. Diese vertraglich festgelegte praktische Unerfüllbarkeit eines einzelnen(!) Kreditvertrages läßt sich als treibender Impuls bzw. als primärer Reproduktionsanreiz identifizieren, da die Erfüllung des gesellschaftlichen Mißerfolgskriteriums, die Insolvenz, mit individuellen Nachteilen verschiedenster Art gekoppelt ist. Dieser Sachverhalt verweist auch unmittelbar auf den sekundären Reproduktionsimpuls, den Gewinn, dessen abgeleiteter Charakter sich dadurch ergibt, daß er mindestens die Höhe der Zinszahlungen erreichen mußte, um das finanzielle Lebensfähigkeitskriterium zu erfüllen. (Das einzelwirtschaftliche Problem des „fehlenden Zinses“ löst sich in einem dynamischen Kontext ohnehin in einem logischen Rauchwölkchen auf!)
Die zugrundeliegende Interpretation von Geld als Vermögen aus individueller Perspektive erweist sich denn auch als der eigentliche Grund für eine Dominanz des Gewinnmaximierungskalküls der Unternehmen über das Nutzenmaximierungskalkül der Haushalte. Der perspektivische Wechsel dieser Theorie zu einem abstrakten Erfolgskriterium gegenüber dem Realkriterium Nutzen der ‚mainstream‘-Ökonomie bedeutet trotz des primären Reproduktionsinteresses an monetären Größen nicht, daß damit ein Konsumziel als treibendes Motiv ökonomischen Handelns ausgeschlossen wäre. Im Gegenteil bedeutet ja die erfolgreiche Reproduktion von ausgegebenem Finanzvermögen nicht nur eine mögliche Fortsetzung des Investitionsprozesses, sondern auch je nach Gewinnhöhe eine unmittelbare Zugriffsmöglichkeit auf Güter. Die Dominanz der Unternehmen über die Haushalte aufgrund der Verfügung über das gesellschaftlich akzeptierte ökonomische Kommunikationsmittel schließt dabei eine Realisierung von Tauschgewinnen der Haushalte untereinander nicht aus, verweist aber gleichzeitig auf den abgeleiteten Charakter haushaltsinterner Transaktionen und klassifiziert derartige Vorgänge zwar nicht als ökonomisch unsinnig, jedoch als in Bezug auf die Erhaltungsbedingungen einer Kreditgeldökonomie als irrelevant: Der Tausch ist hinsichtlich des Finanzsystems neutral!
Die Fassung des Zinses als zentralem Reproduktionsimpuls der finanziellen Sphäre bedeutet auch, daß Luhmann sich ein grobes Mißverständnis leistet, wenn er schreibt:
„Für die Systemtheorie ist es eine geläufige These, daß komplexe Systeme Instabilitäten schaffen müssen, um den Problemen Rechnung tragen zu können, die sich aus der Erhaltung von geordneter Komplexität in einer noch komplexeren und weniger geordneten Umwelt ergeben. Diese Aussage läßt sich auch umkehren: Instabilitäten lassen sich in Systemen nur halten und gegen Verhärtung schützen, wenn eine hinreichend komplexe Umwelt besteht, die überraschende Informationen auslöst, welche durch Inanspruchnahme systeminterner Instabilität, hier also durch Änderung der Preise, verbraucht werden können. … Die Funktionssysteme gewinnen an Autonomie, werden in sich komplexer, benötigen infolgedessen höhere Instabilitäten und müssen selbst für deren Kontrolle sorgen. In der neueren Zeit werden hierfür zwei verschiedene Lösungswege bereitgehalten. Beide haben ein Prinzip gemeinsam: sie überlassen die Kontrolle der Instabilität Instabilitäten anderer Art. Die eine Möglichkeit ist: die Kontrolle des Fluktuierens der Preise über Geldkosten laufen zu lassen. Die Verteuerung des Kredits limitiert das Steigen der Preise. Die Schranken von Instabilität werden im Wirtschaftssystem selbst geregelt, und zwar durch Instabilitäten einer höheren Ebene der Reflexivität: durch den Preis nicht für Waren, sondern durch den Preis für Geld. Die andere Lösung liegt im Rückgriff auf die Instabilitäten eines anderen Funktionssystems; sie nimmt kollektiv bindende Entscheidungen des politischen Systems in Anspruch.“ (Luhmann 1987, S. 159f)
Wie man aus leidvoller Erfahrung weiß, sind die Instabilitäten des politischen Systems, sprich: eine öffentliche Preiskontrolle, stets eine Einladung an alle Wirtschaftssubjekte gewesen in solchen Fällen reichhaltig Umgehungsmöglichkeiten zu erfinden oder auf Schwarzmärkte auszuweichen. Die Kontrolle der Fluktuation der Preise ist dagegen viel effizienter: es ist schlichtweg der Grad der Nachfrageelastizität, der ein Steigen der Preise ins Uferlose verhindert, und somit die „Institution der Konkurrenz“ durch die Souveränität der Nachfrage Preisfluktuationen direkt und spielend begrenzt, und damit eine Konkurrenzwirtschaft sich als notwendiges Gegengewicht zur potentiellen Despotie einer Industriemonopolisierung etabliert.
Aus systemtheoretischer Perspektive bietet sich viel eher eine Interpretation des Zinses in Zusammenhang mit den ihn konstituierenden Schuldverhältnissen an: die nominal fixierten Passivpositionen in den Bilanzen bilden quasi das Gedächtnis des Finanzsystems, welches in Verbindung mit dem Zins die Aktionen der betroffenen Individuen für die Zukunft steuern, ihnen, genauer gesagt, einen bestimmten Aktionsraum aufzwingt, insofern, als geleistete Zinszahlungen die Bonität der Schuldverhältnisse anzeigen und eine Fortführung des Schuldverhältnisses angezeigt erscheinen lassen, falls nicht müssen die systemkonformen Konsolidierungsprozesse einsetzen, um das Kreditportfolio in seiner Bonität nicht absinken zu lassen.
„Die Zunahme zeitlicher Komplexität ist demnach eine zweite Bedingung der Notwendigkeit einer Fortentwicklung des Quasi-Systems zum System. Es bedarf schärfer strukturierter Verfahren und genauer abgestimmter Prozesse, um die kontingent werdenden zeitlichen Verknüpfungsmöglichkeiten zwischen den funktional differenzierten Rollen und Teilen gemäß den Präferenzen und Relevanzen des Gesamtsystems einzuschränken und auf eine verbindliche Systemzeit zu synchronisieren. Wieder fällt auf, daß die Möglichkeit einer Steigerung der zeitlichen Komplexität auf einer strategisch ansetzenden Reduzierung beruht: der Reduzierung frei fließender Weltzeit auf prozessual synchronisierte Systemzeit.“ (Willke 1987, S. 66)
So gesehen fängt das ‚mainstream‘-Konzept kontingenter Zukunftsmärkte zwar den Aspekt der zeitlichen Differenzierung ein, ohne daß jedoch damit die Konstituierung einer eigenen Systemzeit außerhalb der elementaren Präferenzen der Haushalte vollzogen wäre. Gegenüber dieser anarchischen zeitlichen Strukturierung der Gleichgewichtstheorie, steuert der Zins in der Kreditgeldökonomie die zeitliche Dimensionierung des wirtschaftlichen Abrechnungsprozesses und koordiniert damit die realen Handlungsmuster der angekoppelten realwirtschaftlichen Aktivitäten.
„Mit der Einrichtung geregelter Prozesse als temporaler Ordnungsform kontrolliert das Quasi-System die Folgewirkungen der internen funktionalen Differenzierung und erreicht damit eine neue evolutionäre Stufe der Komplexitätsverarbeitungskapazität.“ (Willke 1987, S. 67)
Perspektivische Nachbemerkungen
Die Wohlfahrt einer Gesellschaft in ökonomischer Hinsicht wird bestimmt von der Gesundheit des zugrundeliegenden Finanzsystems. Dieser Satz faßt in aller Kürze die Quintessenz des vorstehenden Posts zusammen und beinhaltet schon deswegen nicht nur eine uninteressante Trivialität, weil eine ökonomische Orthodoxie, die von der Neoklassik bis zum neueren Marxismus reicht, seit über 200 Jahren die Dominanz der Gütersphäre über den Geldschleier zu predigen nicht müde wird. Und insbesondere eine Entwicklungstheorie, die auf einer realwirtschaftlichen Basis gebaut ist, zeigt in unerfreulich deutlicher Weise, wie durch falsche Konzepte und Theorien mit bestem Gewissen und lauteren Absichten eine Katastrophe nach der anderen angestellt werden kann. Demgegenüber erweist sich ein funktionierendes Kreditgeldsystem als das effizienteste Steuerungsmittel, wenn es darum geht für einen gesellschaftlichen Rahmen eine Kohärenz der Individualaktionen zu erzeugen. Das Kreditsystem fungiert somit als das informale Band, welches geeignet ist, einer Gesellschaft den ökonomischen Zusammenhalt zu liefern, welcher als eine Grundbedingung der Stabilität des übergeordneten Gesellschaftssystems anzusehen ist.
Diese Einsicht in die Zusammenhänge moderner Ökonomien bedeutet auch die endgültige Abkehr von einem Gleichgewichtsbegriff, für den die Balance widerstreitender Kräfte die Grundlage des Raisonnements abgibt. Die wesentliche Änderung in der Analyse der innergesellschaftlichen Beziehungen besteht darin, nicht mehr die Konfrontation als das Gegeneinander im Tauschprozeß, sondern die Kooperation in der Produktion in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken, um damit die Defizite der statischen Gleichgewichtsvorstellung zu kompensieren.